Ich weiß noch, dass ich mich als Kind fragte, warum ein Streichquartett aus zwei Violinen, einer Viola, einem Violoncello aber keinem Kontrabass besteht - wo es doch vier verschiedene Streichinstrumente gab! In der Tat strebt das Streichquartett nach dem Ideal des vierstimmigen Vokalsatzes mit Sopran, Alt, Tenor und Bass, was nach vier Instrumenten mit unterschiedlichen Tonlagen "verlangt".
Später wurde mir freilich klar, dass das Violoncello eher ein Bass- als ein Tenorinstrument und der Kontrabass noch tiefer als ein Bassinstrument ist (weshalb er ja Kontrabass heißt). Damit fehlt im Streichquartett das Tenorinstrument. Für ein "Reform-Streichquartett" (oder "Natürliches Streichquartett", wie es Gerardo Yañez nennt) mit einem Sopran-, einem Alt-, einem Tenor- und einem Bassinstrument müsste also ein neues Streichinstrument in Tenorlage eingeführt werden, das eine Oktave tiefer als die Violine gestimmt ist.
Dieses Problem wurde von verschiedenen Musikern erkannt, und es hat diverse Versuche gegeben, eine Tenorgeige einzuführen. Gemeinsam ist den hier aufgeführten Instrumenten die Stimmung G d a e1, also eine Oktave tiefer als die Violine; sie unterscheiden sich aber in ihren Maßen und Proportionen sowie darin, dass manche wie die Violine oder die Bratsche horizontal, andere wie ein Cello vertikal gespielt werden. Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; es gab wahrscheinlich noch weitere Tenorgeigen, über die mir nichts bekannt ist.
Diese Instrumente sind nicht mit der barocken Viola tenore zu verwechseln, die wie die Bratsche gestimmt war (also c g d1 a1) und lediglich ein größeres Korpus und einen dunkleren Klang hatte als diese. Dieses Instrument kam um 1750 außer Gebrauch.
Wie die oben genannten Instrumente zeigen, besteht Uneinigkeit zwischen den Erfindern, ob die Tenorgeige wie eine Violine horizontal oder wie ein Cello vertikal gespielt werden soll. Die horizontale Spielhaltung erfordert einen Kompromiss hinsichtlich der Größe des Instruments. Es kann nicht viel größer als eine Bratsche sein, was eigentlich zu klein wäre; schließlich stellt schon die Bratsche in ihrer Größe einen Kompromiss zwischen der akustisch erforderlichen Größe und der Grenze dessen, was in horizontaler Haltung spielbar ist, dar. Bei der vertikalen Spielhaltung besteht dieses Problem nicht; das Instrument kann so groß gebaut werden, wie es die Akustik eigentlich verlangt, nämlich in etwa so groß wie eine Gitarre, die eine ähnliche Tonlage aufweist. Des weiteren wäre damit eine Symmetrie hinsichtlich der Spielhaltungen gegeben: im Reform-Streichquartett gäbe es zwei horizontale und zwei vertikale Instrumente, wobei die ersteren den "weiblichen" und die letzteren den "männlichen" Stimmlagen entsprächen. Das Cello wäre hinsichtlich der Spielhaltung kein "Außenseiter" mehr, wie dies im klassichen Streichquartett der Fall ist. Diese Punkte sprechen dafür, die Tenorgeige als vertikal gespieltes Instrument zu bauen.
Die meisten dieser Instrumente sind selten, teuer und schwer zu beschaffen. Die im 19. und frühen 20. Jahrhundert erfundenen Instrumente werden heute nicht mehr gebaut; die Hutchins-Tenorgeige kostet in ihrer billigsten Version 5000 Dollar; für die Viola profonda liegen mir diesbezüglich keine Informationen vor. Dies führte im Musiker-Board zu einer Diskussion um einen preiswerteren Ersatz für diese "exotischen" Tenorgeigen. Mein anfänglicher Vorschlag, eine Bratsche umzustimmen, wurde als problematisch befunden (das Instrument ist vor allem für die Tenorlage zu klein, eine Herunterstimmung um eine Quarte führt wegen der geringen Saitenspannung zu Intonationsproblemen).
Ein in jener Diskussion gemachter Vorschlag von Konrad Friz (Teilnehmer "fiddle") besteht darin, ein kleines Cello (etwa ein 1/4-Cello) umzurüsten. Man entferne dazu die C-Saite, versetze die übrigen Saiten einen Schritt nach links und ziehe als 4. Saite eine geeignete hohe E-Gitarrensaite auf - fertig ist die Tenorgeige! Als Instrumentenbezeichnung schlage ich Violoncellino bzw. Cellino vor, denn das neue Instrument würde zum Cello in der gleichen Beziehung stehen wie die Violine zur Viola. Wie gut das aber in der Praxis funktioniert, kann nur das praktische Experiment erweisen. Gitarrensaiten sind von Haus aus nicht zum Streichen gemacht, und die meisten dürften sich daher nicht für ein Streichinstrument eignen. Eine solche Bastellösung dürfte einer speziell zu diesem Zweck konstruierten Tenorgeige wohl klanglich unterlegen sein - wäre aber sicher viel billiger.
Hat man nun eine Tenorgeige, stellt sich natürlich die Frage: Welche Musik spiele ich darauf? Bislang gibt es nicht sehr viele Kompositionen für die Tenorgeige und das Reform-Streichquartett. Es sind vor allem die Erfinder der diversen Tenorgeigen und ihnen nahestehende Komponisten, die Musik für diese Instrumente verfasst haben. Da die diversen Tenorgeigen bei allen Unterschieden gleich gestimmt sind (wenn auch Unterschiede in der Klangfarbe bestehen), lässt sich solche Musik im Prinzip auf jeder davon spielen, also z. B. Musik für Violotta auf einer Hutchins-Tenorgeige.
Nun stellt die Tenorgeige freilich ein Instrument dar, für das es schon seit über 200 Jahren bereits Kompositionen gibt, denn der Sinn dieses Instruments besteht ja gerade darin, Kompositionen für herkömmliches Streichquartett mit dem Reform-Streichquartett zu spielen, wobei die Bratsche die Stimme der 2. Violine und die Tenorgeige die Stimme der Bratsche übernimmt, wenn diese Stimmen nicht zu hoch liegen. Dies ließe sich auch im Orchester machen. Des weiteren ließen sich vierstimmige (SATB) Chorsätze auf das Reform-Streichquartett übertragen. Grundsätzlich gibt es hier viel Raum für Komponisten, "Neuland" zu erschließen.
Natürlich kann man sich fragen: Was soll das Ganze? Zu bedenken ist hier vor allem, dass das Ideal des vierstimmigen Vokalsatzes erst im Nachhinein an das Streichquartett herangetragen wurde. Das Streichquartett hat sich vielmehr aus der barocken Triosonate entwickelt, die mit zwei Diskantinstrumenten (meistens Violinen) und Generalbass (in der Regel Cembalo, wozu dann ein Cello trat, das den Basston mitspielte) besetzt war. Mit der Aufgabe des Generalbasses wurde dieser um 1750 durch die Kombination von Viola und Cello ersetzt, wodurch das klassische Streichquartett entstand.
Auch werden andere Orchesterinstrumente nicht in Sopran-, Alt-, Tenor- und Basslage gebaut. Das gibt es eigentlich nur bei Blockflöten und Saxophonen. Warum dann sollte das bei den Streichern gemacht werden?
Gleichwohl gibt es die Idealvorstellung vom Streichquartett als Instrumentalversion des vierstimmigen Vokalsatzes, und Fragen nach dem "Sinn" einer künstlerischen Entscheidung (und um nichts anderes handelt es sich bei dem Tenorgeigenproblem) sind ohnehin nicht besonders sinnvoll. Es ist vollkommen legitim, ein Streichquartett mit vier verschiedenen Instrumenten in Sopran-, Alt-, Tenor- und Basslage zu konzipieren.
Letztlich sind bislang alle Versuche, ein "Reform-Streichquartett" einzuführen, an dem Konservativismus der Klassikszene gescheitert. Es existiert einfach keine umfangreiche Literatur für eine Kammermusikgattung, die ein neues, unübliches Instrument voraussetzt. Wahrscheinlich wird auch in Zukunft das Reform-Streichquartett die Spielwiese von musikalischen "Spinnern" bleiben.
Was zu tun bleibt, ist die praktische Erprobung des Cellinos. Als Spieler käme in erster Linie ein Cellist in Frage, der im Prinzip dazu nur sein altes kleines Cello aus Kindertagen aus dem Keller holen und wie oben beschrieben umrüsten müsste.
© 2025 Jörg
Rhiemeier
Letzte Änderung: 2025-05-11